WIE AUS HEITEREM HIMMEL

WIE AUS HEITEREM HIMMEL

von Udo Robin Gardner

 

Max erblickte das Licht der Welt an einem Freitag, dem Dreizehnten, und entsprechend verlief auch sein Einstieg ins Leben. Schon als man ihn nach der Entbindung seiner Mutter an die Brust legen wollte, stieß sie einen schrillen Schrei aus, rief „Jesus Maria“ und bekreuzigte sich. Energisch weigerte sie sich, ihn anzunehmen. Als er dann schließlich doch an ihrer Brust lag, weinte sie leise vor sich hin, den Kopf zur Seite gewandt, als ertrüge sie es nicht, ihren Sohn anzusehen. Auch sein Vater blickte ziemlich betreten aus der Wäsche. „Soll das mein Sohn sein?“, schien er sich grübelnd zu fragen. „Ist das denn die Möglichkeit?“

Es war nicht nur die Möglichkeit, es war sogar absolut gewiss, dass Max der Sohn dieser beiden ehrbaren Menschen war, die bereits jetzt, kurz nach seiner Geburt, begannen, sich von ihren hochfliegenden Plänen für Max‘ Zukunft (unser Sohn soll es mal besser haben) zu verabschieden.

Nicht, dass Max‘ Eltern schlechte Eltern gewesen wären. Nein, das waren sie nicht. Sie waren enttäuschte Eltern. Zu sehr hatten sie sich auf diesen neuen Erdenbürger gefreut, hatten sich so viel von ihm erhofft. Alles, was Ihnen im eigenen Leben nicht gelungen war – ihre frühen Träume und Sehnsüchte, allesamt vom Wind der Zeit verweht –,  ihr Sohn sollte es verwirklichen. Er sollte Freude, Liebe und Inhalt in ihr glanzloses Leben bringen. Aber dieser Neugeborene, das war schon gleich zu sehen, war irgendwie verunstaltet, sah merkwürdig verwachsen aus, ganz anders als die anderen Babys,  und würde es einmal sehr schwer im Leben haben. Vermutlich noch schwerer als sie selbst es gehabt hatten. Da half nur noch der Alkohol als stets probates soziales Schmiermittel, um mit dieser kolossalen Enttäuschung fertigzuwerden. Der Vater war erst nach 3 Tagen wieder einigermaßen ansprechbar.

Schon als Baby wirkte Max nicht nur schwerer, sondern vor allem viel klobiger als andere Gleichaltrige. Da war so gar nichts Feines oder Zartgliedriges an ihm. Irgendwie erinnerte er – war es sein Onkel Kurt, der das zum ersten Mal ausgesprochen hatte? – an ein Nilpferd. Diese kurzen Beine, auf denen der schwere Corpus saß, der ohne Hals in den massigen Kopf überging; dazu der breite wulstige Mund, die hervorquellenden schläfrigen Augen – was war da nur schiefgelaufen?

Aber Max war wenigstens ein friedliches (um nicht zu sagen: phlegmatisches) Kind, das nicht viel schrie und eigentlich immer nur schlafen wollte. Absolut pflegeleicht. Wenn er aber auf andere Kinder traf, zum Beispiel auf dem Spielplatz oder im Kindergarten, blühte er regelrecht auf und wollte mit ihnen spielen, stieß aber leider auf keine Gegenliebe. Die anderen Kinder wollten nichts mit ihm zu tun haben und stießen ihn weg, was ihn unsäglich traurig machte. Natürlich fiel ihm auf, wie nett alle Menschen zu den anderen Kindern waren, wie sich die Eltern freuten, ihre Kinder zu sehen und die Kindergärtnerinnen strahlten, wenn sie mit ihren kleinen Lieblingen die Welt erkundeten. Nur er war niemandes Liebling. Bei ihm strahlte niemand. Als gäbe es eine unsichtbare Mauer um ihn herum, gelang es ihm einfach nicht, auch wenn er sich noch so sehr bemühte, von den anderen anerkannt, geschweige denn geliebt zu werden.

Max verstand nicht, warum das so war, und zog sich immer mehr in sich selbst zurück.

Normalerweise, und das hat die Natur weise so eingerichtet, appelliert die Schutzbedürftigkeit kleiner Kinder an das Gute im Menschen und weckt den Beschützerinstinkt der Großen. Nicht so bei Max. Bei ihm versagte dieser Mechanismus irgendwie völlig. Seine Tragödie war, dass sein Aussehen in keiner Weise mit seinem Innenleben übereinstimmte. Sein Äußeres entsprach dem eines unbehauenen, groben Klotzes, und es bedurfte mehr als nur einer normalen Fantasie, um sich vorstellen zu können, dass im Inneren dieses hässlichen Klotzes geradezu ein Seelchen von einem Menschen wohnte. Ein Seelchen, das vor Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit und Harmonie immer mehr verging Ja, wenn sein Äußeres dem Inneren entsprochen hätte, kein Zweifel, alle Welt hätte sich um Max gerissen. Aber so …

So wurde Max immer trauriger, immer isolierter. Als nach dem Kindergarten die Schule kam, wurde es nicht etwa besser, sondern mündete vollends in die Katastrophe, denn sein plumpes Aussehen hatte sich noch weiter ausgeformt, wenn man das so sagen kann, und er wurde nun richtiggehend gemobbt, so brutal, wie eben nur Kinder sein können. Auch sie fanden, dass er wie ein Nilpferd aussah, Nilli riefen sie ihn deshalb. Und da war niemand, mit dem er hätte reden können. Nicht mit den Lehrern, die ihn aufgrund seines Aussehens schon von vornherein abgeschrieben hatten, und auch nicht mit den eigenen Eltern. Alles, was er von denen zu hören bekam, war „Du musst dich mehr anstrengen“ und „Von nichts kommt nichts!“ Seine Eltern hatten inzwischen all ihre aufgesparte Liebe auf das kleine Schwesterchen übertragen, die alles das hatte, was ihrem Bruder fehlte. Dieser süße Wonneproppen war eine Nachzüglerin, mit der niemand mehr, vor allem die Ärzte nicht, gerechnet hatte.

Eines Tages fiel Max ein wunderschönes Bilderbuch in die Hände. „Ferdinand, der Stier“. Damit erschloss sich ihm eine ganz neue Welt. Ferdinand, der Stier, der nicht in der Arena kämpfen wollte, um sich dort abschlachten zu lassen, sondern lieber unter einem Baum lag, in die grüne Natur schaute und den süßen Duft der Blumen roch. Das konnte Max nachvollziehen, denn er wollte auch nicht kämpfen. Wozu auch? Er war seinem ganzen Wesen nach nicht dafür geschaffen, den Sinn des Kämpfens zu verstehen, wo es immer mindestens einen Sieger und einen Verlierer geben musste.

Dieses ganze Leben aber, war es nicht organisiert wie ein einziger Kampf?

Armer Max. Beim Fußballspiel taten ihm die Verlierer leid, beim Boxen konnte er sich nicht mit dem Gewinner freuen, sondern litt mit dem Verlierer. Als wäre er der Bibel entsprungen, war er genau der Typ, der einem Angreifer nach dem ersten Schlag auf die Wange gleich auch noch seine andere bereitwillig hingehalten hätte.

Da seine Beziehungen zu den Menschen so wenige (eigentlich gar keine) Früchte trugen, begann er sich mehr und mehr den Tieren zuzuwenden, zunächst den Hunden und Katzen in seiner Umgebung. Hier war die Resonanz auf ihn eine ganz andere: Auf die Tiere übte er eine geradezu magische Anziehungskraft aus. Sie wollten mit ihm spielen, ihnen war er gut genug, ja, sie liebten ihn. Sie taten ihm so gut, dass sich seine Seele, in der es mit der Zeit immer dunkler geworden war, wieder aufhellte. Gefördert wurde diese Entwicklung auch durch eine ganz merkwürdige Entdeckung, die Max rein zufällig machte. Und zwar an dem Tag, als das Lachen Einzug in sein Leben hielt.

Es war vor dem Eingang zu einer großen Einkaufspassage. Ein kleiner Struppi  war an einem Fahrradständer angeleint und winselte kläglich, immer wieder unterbrochen durch weinerliches Kläffen. Dieser kleine, zum Warten verdammte Hund vereinte das Elend und die Einsamkeit der ganzen Welt in sich. Als Max sich näherte, um in die Passage zu gehen, verstummte er plötzlich, stand ganz still und witterte in Max‘ Richtung. Mit einem Mal durchlief ein Zittern den kleinen Körper, das Stummelschwänzchen begann ekstatisch zu wackeln; dann strebte er Max entgegen. Er zog an seiner Leine mit solcher Macht, dass er sich zu strangulieren drohte. Die Augen quollen schon hervor, er hechelte stoßweise, nahm immer wieder Anlauf, um in Max‘ Richtung zu springen, nur um sich mit einem schrillen Jaulen am Boden wiederzufinden. Doch er gab nicht auf und warf sich erneut in die Leine.

Das Tierchen führte sich auf wie toll und die beiden erregten bereits die Aufmerksamkeit der Passanten sowie der Menschen, die vor dem Café neben dem Eingang saßen. Vereinzelt tönte Lachen auf. „Schaut mal den riesigen Kerl da!“ Es war wirklich ein rührender Anblick, wie sich dieser große ungeschlachte Mensch zu dem kleinen Hündchen hinunterbeugte, das vor Begeisterung schier außer Rand und Band geriet.

Ein junger Typ stieß seine Begleiterin an und grinste:“ Hast du mal den Film Der Glöckner von Notre-Dame gesehen? Der da sieht genauso aus wie dieser … dieser Quasimodo.“

Der riesige Mensch erwiderte die Freude des kleinen Hundes. Er strahlte ihn an und bekam dabei ein ganz rotes Gesicht. Und während er ihn streichelte und das Hündchen vor Erregung winselnd an ihm hochsprang und seine Hände leckte, begann er leise zu lachen. Ein Lachen, das ganz tief aus seinem Inneren kam, perlend wie die Quelle aus dem Berg.

Die Menschen, die die Szene bisher amüsiert beobachtet hatten, wurden mit einem Mal still. Irgendetwas übertrug sich. Was nun geschah, sollte allen Beteiligten für immer rätselhaft bleiben. Der große Mensch hörte nicht etwa auf zu lachen, sondern lachte immer weiter und auch lauter, es war, als ob sich die Schallwellen, die von ihm ausgingen, rhythmisch verteilten mit einer Sogwirkung, der sich kein Zwerchfell entziehen konnte. Nach einer Minute lachten alle Umstehenden, und es kamen immer mehr Menschen hinzu, die wissen wollten, was da los war und nach kurzer Zeit in das Lachen einstimmten. Die meisten wussten noch nicht einmal, weshalb sie so lachten, denn das jaulende Hündchen und der riesige Mensch, der am Boden kniete, waren nur von denen, die direkt daneben standen oder saßen, zu sehen. Zuletzt fegte ein Lachen über den Platz, das sich immer mehr zu einem wahren Lach-Orkan steigerte. Einige waren schon völlig aus der Puste und drohten zu kollabieren, aber da ebbte das Lachen glücklicherweise auch schon wieder ab.

Da war die Quelle dieser Lachorgie bereits in der Passage verschwunden, ein glückliches Hündchen und ratlose Menschen zurücklassend, denen irgendwie ganz eigenartig zumute war, als hätten sie einen Kater.

Max indes fühlte sich beschwingt wie eigentlich noch nie zuvor in seinem Leben, so, als hätte das Lachen ihn irgendwie energiemäßig aufgeladen. Er beschloss, das bei nächster Gelegenheit gleich wieder auszuprobieren …

Dieser Vorfall auf dem Platz markierte einen Wendepunkt in Max‘ Leben und seit da ging es mit ihm bergauf. Wann immer ihm trübe zumute war, musste er nur lachen, das war der reinste Stimmungsmacher für ihn, und niemand konnte sich seinem Lachen entziehen.

Mittlerweile hatte er auch beruflich Boden unter die Füße bekommen und den für ihn richtigen Job gefunden. Als Tierpfleger im Zoo war er genau dort, wo er immer hingewollt hatte. Er liebte die Tiere, für die er Sorge trug, wobei sein ganz besonderer Liebling die Nilpferddame Dornröschen war. Ihm war klar, dass nun auch die Zeit gekommen war, um endlich die nächste große Sache in seinem Leben anzugehen.

Er wusste nicht, wo, und er wusste nicht wie, aber er wusste, dass sie zu ihm kommen würde: die Liebe. Dass sie aber so zu ihm kam, wie sie dann kam, das hätte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können!

Denn sie kam zu ihm sprichwörtlich wie aus heiterem Himmel!

Max hatte sich bei einem Trödler einen Sessel gekauft, ziemlich billig und entsprechend sah er auch aus, und er trug ihn stolz wie Bolle vor sich her. Er befand sich auf dem Weg zurück zu  seinem kleinen Einzimmerappartement in dem großen Block gleich neben dem Zoo. Während er sich seinem Wohnhaus noch annäherte, hörte er plötzlich einen Schrei von oben. Als er stehenblieb und sich zurücklehnte, um nach oben zu blicken, sah er gerade noch einen dunklen Schatten auf sich heruntersausen – und dann krachte es auch schon fürchterlich. WUMM!

Der dunkle Schatten von oben war genau auf die Sitzfläche des Sessels, den er so einladend vor sich hergetragen hatte, geknallt.

Beide gingen zu Boden, wobei es Max gelang, so zu fallen, dass er den Sturz des Schattens, der übrigens betonmäßig schwer war, mit seinem Körper abfedern konnte. Er tat sich ziemlich weh dabei, aber der Schmerz war ziemlich schnell vergessen, als er sah, was er da in seinen Armen hielt.

Das wunder-wunder-wunderhübscheste Geschöpf, das er jemals gesehen hatte.

Susi war noch völlig benommen, als sie endlich die Augen öffnete. War sie etwa schon im Himmel? Sie blickte in runde, maßlos erstaunte, sehr sanfte braun gesprenkelte Augen – in denen sie bis ans Ende der Welt versinken konnte.

Obwohl er noch nie geliebt hatte, war Max absoluter Experte in Liebesdingen dank der modernen Segnungen des Internets. Er wusste, wie der weibliche Körper in allen möglichen und unmöglichen Stellungen aussah und was man damit alles anstellen konnte.

Also verhielt er sich genauso, wie er das in unzähligen Pornofilmchen gelernt hatte, wo es ja für gewöhnlich immer schnell zur Sache ging. Er trug sein Himmelsgeschenk zusammen mit den Resten des Sessels so schnell wie möglich auf seinen starken Armen hinauf in seine Wohnung, setzte die Dame auf sein Bett und stand dann, nachdem er die Wohnungstür sorgfältig abgesperrt hatte, schwer atmend und ehrfürchtig staunend vor ihr.

Das war sie also, seine große Liebe! Ans Werk! Aber wie beginnen? Jetzt verliieß ihn doch der Mut. Nachdem sie sich endlos lange angestarrt hatten, wendete sich Max etwas verschämt zur Seite und begann sich auszuziehen.

Es folgte nicht, was jetzt eigentlich hätte folgen müssen: energischer Protest nämlich. Warum wehrte sich Susi nicht? Ihr gehauchtes „Ich bin die Susi“ konnte nun wirklich nicht als Protest durchgehen.

Max besaß immerhin noch so viel Höflichkeit und stellte sich ebenfalls vor. „Und ich bin der Max!“, stöhnte er mit versagender Stimme. Er hatte nur noch die Unterhose an und Susi sah, dass seine Knie zitterten, seine Hände, ja, der ganze Mann zitterte, und die Zähne schlugen hörbar aufeinander. Eigentlich eher ein Bild des Jammers, dieses Mannsbild in der geblümten Unterhose, nicht der Bedrohung.

Susi hatte mittlerweile begriffen, dass sie nicht im Himmel, sondern ihr Selbstmordversuch gescheitert war. Wie sollte sie sich verhalten? Was dieser komische Mann von ihr wollte, war ihr jetzt nicht mehr so klar, da er nur dastand und vor sich hin bibberte. Nein, Angst hatte sie keine vor ihm. Als die Zeit sich zu einer Ewigkeit dehnte und nichts passierte, stand sie schließlich etwas unentschlossen auf.

„Du, ich geh‘ dann mal“, sagte sie. Nach ein paar Schritten blieb sie noch einmal stehen. „Und danke auch, dass du mich … aufgefangen hast … Also, tschüss dann.“

Er hatte sich noch immer nicht bewegt, sondern nur weiter gebibbert. Sie hatte schon fast die Tür erreicht, als sie ein weiteres Mal innehielt. Was war denn das für ein Geräusch? Das klang ja wie …? Sie wandte sich zu ihm um. Er lachte doch nicht etwa …?

Doch, tat er. Und das mit todernstem Gesicht. Max lachte glucksend in sich hinein. War er irre? Sie hatte noch nie jemanden so lachen hören. Sie wurde böse. Wie konnte er es wagen, sich über sie lustig zu machen! Sie war gewiss nicht stolz darauf, was sie getan hatte, aber …

Inzwischen hatte das Lachen Max‘ Gesicht erreicht, und es war faszinierend zu beobachten, wie es sich von dort über den ganzen Menschen ausbreitete und ihn auch rhythmisch erfasste. Bevor sie noch richtig begriff, was hier vor sich ging, fing sie selbst zu lachen an, obwohl sie dazu nicht den geringsten Anlass sah. Was war nur los mit ihr? Ihr wurde so komisch …?

Staunend beobachtete sie sich, wie sie dem jungen Mann die scheußliche Blümchenunterhose abstreifte, und eigentlich hätte ihr die gewaltige Erektion des wie befreit wippenden Penis‘ einen gehörigen Schrecken einjagen müssen, aber nichts dergleichen geschah. Immer lauter lachend ließ sie es zu, dass Max zaghaft ihre Brüste berührte, nun begann sie sogar, ihre Bluse aufzuknöpfen, um ihm entgegenzukommen und es ihm leichter zu machen.

Max hatte noch nie eine Frau intim berührt, und trotz des permanenten Lachens, das dem Ganzen eine verspielte Note gab, betastete und streichelte und bestaunte er das ihm Dargebotene voller Andacht. Als sie auch nackt war, brach sein Lachen abrupt ab. Sie verstummte ebenfalls. Und dann war da nur noch ihr beiderseitiges heftiges Atmen und Schnaufen zu hören, und Max fühlte etwas Gewaltiges in sich aufsteigen, das er kaum mehr imstande war, zu bändigen.

Auch Susi war noch nie von einem anderen Menschen intim berührt worden, und es fühlte sich so wunderbar an. Haut an Haut. Fleisch an Fleisch. Wange an Wange, dann Mund auf Mund. Die ganze Welt begann sich zu drehen, erst langsam, dann immer schneller, bis sich schließlich die Dimensionen von Zeit und Raum in einem Wirbelwind auflösten, der sie weit, weit fort trug, direkt ins Paradies hinein.

Diese beiden schwergewichtigen jungen Leute konnten, einmal angefangen, nicht mehr voneinander lassen. Ihre vernachlässigten, liebeshungrigen Körper hatten die Regie übernommen.

Ab da waren Max und Susi ein Paar, und wieder einmal war der Beweis erbracht, dass es für jedes Töpfchen das passende Deckelchen gibt.

Max und Susi, Susi und Max. So war es, und so war es gut. Und so sollte es auch bleiben, das war beiden von Anfang an klar. Ein ganzes Leben lang.

Wie sie das gesundheitlich überstehen sollten, darüber machten sie sich noch keine Gedanken. Sie waren zu einem Leib geworden, zu einem Wesen mit zwei Rücken. Selbst wenn Susi aus ihrem Leben erzählte, manchmal traurig, aber meistens vergnügt vor sich hinplappernd, steckten sie ineinander fest. Max hatte durch ihre Berührungen eine Dauererektion, und auch Susi war schon ganz wund, aber beide wollten ohne diesen süßen Schmerz nicht mehr leben. Selbst auf der Toilette oder auch beim Zähneputzen hielten sie sich im Arm oder zumindest Händchen …

Susi war in einer Babyklappe abgelegt worden und hatte ihre Eltern nie kennengelernt. Nachdem sie von den lieblosen Pflegeeltern mehrmals ausgerissen war, verbrachte sie die folgenden Jahre in Heimen, wo sich niemand um sie kümmerte. Nach einer abgebrochenen Lehre landete sie auf der Straße. Das Einzige, was sie bisher im Leben gelernt hatte, war, dass sie hässlich und fett war und dass sie allen nur zur Last fiel. Zuletzt hatte sie bei einer alten Frau als Putze gearbeitet, die sie bei der Polizei anzeigte, weil sie 5 Euro vermisste. Wie sich dann herausstellte, hatte sie das Geld nur verlegt, kam aber nicht auf die Idee, sich bei Susi zu entschuldigen. Susi war einmal in ihrem Leben mutig und sagte dem alten Drachen ihre ungeschminkte Meinung – und kündigte gleich von sich aus. Sie hatte so die Schnauze voll von dieser unverschämten Ausbeuterin, die sie in einem fort nur schikaniert hatte, und überhaupt von ihrem ganzen Leben, dass sie, als sie die Wohnung verließ, die Abkürzung durchs Fenster nahm …

Es war ihr Sprung ins Glück!

Max konnte es nicht fassen, dass sie sich als hässlich bezeichnete. Er fand jedes Detail an ihr wundervoll. Ihre runden Augen, ihre runden Wangen, das entzückende Grübchen im Kinn, die weiche Polsterung ihre Doppelkinns, ihre runden Schultern, die atemberaubenden Rundungen ihrer Brüste, dieses herrlich wogende warme, weiche Fleisch, das ihn umschmeichelte, ihm Wärme und Geborgenheit bot…

Susi zog bei Max ein, das heißt, sie blieb einfach da und holte irgendwann ihren Koffer mit ihren wenigen Habseligkeiten, der bei einem Bekannten untergestellt war, ab. So viel Seligkeit auf 17 qm. So viel Raum für ihre Liebe auf der 1 Meter breiten Matratze auf dem Boden.

Wenn Max zur Arbeit ging, begleitete Susi ihn manchmal. Auch sie war von Dornröschen ganz begeistert. Gleich beim ersten Mal hatten sie Freundschaft geschlossen. Susi schaute von draußen zu, als Max bei Dornröschen saubermachte, sie durfte nicht mit rein, weil Nilpferde als sehr gefährlich gelten. Dornröschen stand am Wasser und zögerte noch, hineinzugehen. Stattdessen glotzte sie Susi an. Susi musste plötzlich herzhaft gähnen, und was machte Dornröschen? Sie gähnte ebenfalls, und zeigte Susi, wie so etwas wirklich zu gehen hat mit ihrem wahrhaft riesigen Maul. Damit konnte Susi natürlich nicht konkurrieren und musste lachen. Als Dornröschen ihr Maul wieder zu hatte, blinzelte sie, das war doch wirklich kaum zu glauben, ja echt, sie blinzelte Susi für einen Augenblick zu, bevor sie sich vergnügt ins Wasser plumpsen ließ.

Ansonsten verbrachten die beiden die meiste Zeit zu Hause; sie gingen nur raus, wenn sie was zum Essen einkaufen mussten. Noch immer konnten sie körperlich nicht voneinander lassen, es war, als versuchten sie nachzuholen, was sie bisher in ihrem Leben versäumt hatten. Schon nach wenigen Wochen waren Susi und Max rein äußerlich kaum mehr wiederzuerkennen. Ihre Gesichter waren zwar bleich, sie hatten dunkle Schatten unter den Augen und sahen irgendwie hohlwangig aus, aber körperlich hatten sie sich mächtig in Form gebracht. Ein Beweis, dass es kein besseres Konditionstraining als die Liebe gibt.

Ein gutes halbes Jahr war inzwischen vergangen und Susi arbeitete nun auch seit kurzem im Zoo, zunächst als Hilfskraft, die mal hier, mal dort eingesetzt wurde, aber mit der Aussicht auf eine feste Anstellung. Sie kamen gerade aus dem Discounter raus, wo sie für das Abendessen eingekauft hatten, und spazierten Hand in Hand nach Hause. Plötzlich knallte es ein paarmal. Die Menschen blieben stehen, und auch Max drehte sich um in die Richtung, aus der das Knallen gekommen war. Er sah zwei junge Typen aus dem Eingang einer Bank laufen. An seiner Hand gab es einen Ruck; er umklammerte Susis Hand mit eisernem Griff, da sie ihm zu entgleiten drohte. Susi lag neben ihm am Boden, unter ihrem Kopf bildete sich eine Blutlache.

Im Kopf hatte er noch nicht überrissen, was passiert war, als sich seine Beine schon in Bewegung setzten. Mit geradezu übermenschlicher Kraft jagte er den Kerlen nach. Als er den einen fast erreicht hatte, schoss der im Laufen auf ihn und Max fühlte die Kugel an seinem Kopf vorbeipfeifen. Dann, mit einem gewaltigen Satz hatte er das Arschloch eingeholt und riss es mit sich zu Boden. Und dann schlug er wie von Sinnen auf das um Hilfe schreiende Bürschchen ein, weiß Gott, er hätte dieses elendige Stück Mensch, das seiner Susi ein Leid angetan hatte, totgeschlagen, wenn nicht die Polizei so rasch erschienen wäre und das Schlimmste verhinderte. Die Beamten hatten alle Mühe, den tobenden Mann, der Bärenkräfte entwickelte, von seinem Opfer zu entfernen.

Susi war von einem Querschläger getroffen worden und starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Max hielt ihre Hand so lange, bis man ihm sein Liebstes auf Erden wegnahm. Als im Krankenhaus die Flügeltür zuschlug, durch die man die Bahre, auf der Susi zugedeckt lag, geschoben hatte, blieb Max zurück, einsam und hilflos, am Boden zerstört.

Er ging nicht zu Susis Beerdigung. Sie kam in ein Armengrab. Zu der Susi, die nicht mehr bei ihm war, hatte er keine Beziehung. Ihre Sachen, die zurückgeblieben waren, spendeten ihm nur schwachen Trost. Er ließ sie, wie er sie vorgefunden hatte, veränderte nichts.

Er hatte keine Kraft mehr und verließ manchmal über viele Tage nicht die Wohnung. Auch der Job interessierte ihn nicht mehr. Eines Tages kam eine Ladung vom Gericht, dass er am Soundsovielten als Zeuge gehört werden sollte.

Doch am Tag dieses Gerichtstermins hatte er Wichtigeres vor. Er hatte einen Entschluss gefasst. Sorgfältig machte er sich morgens fertig, zog sich seinen besten und einzigen Anzug an, den Susi für ihn in einem Secondhandladen ausgesucht hatte, und kämmte sich die widerborstigen Haare. Dann, nach einem letzten langen Blick in den Spiegel, verließ er die winzige Wohnung, in der er mit Susi gelebt hatte …

Im Zoo fasste die kleine Janine nach der Hand ihrer Lehrerin und zog sie nach rechts. „Du, Frau Müller, was macht denn der Mann da unten. Schau mal.“ Mit ihrem rechten Arm deutete sie hinüber zur Freiluftanlage. Ein massiges Nilpferd war da zu sehen, das einen riesigen Mann in einem dunklen Anzug anglotzte, der ihm gegenüberstand. Die Klassenlehrerin rief ihre Schüler zusammen. „Kommt doch alle mal her, Kinder, hier gibt’s was zu sehen!“

Auch andere Besucher des Zoos näherten sich neugierig und verfolgten gespannt, was in dem Gehege vor sich ging.

Der Mann redete auf das Nilpferd ein. Man konnte nicht verstehen, was er sagte, aber er schien, seinem wilden Gestikulieren nach, ziemlich aufgeregt zu sein.

Max hatte Dornröschen ja so viel zu erzählen, er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte. Zu viele Gedanken gleichzeitig in seinem armen Kopf, die alle gleichzeitig raus wollten. Aber am wichtigsten war doch, dass er ohne Susi nicht leben konnte. Seit sie nicht mehr bei ihm war, war er nicht mehr vollständig, fühlte er sich halbiert, nein, noch viel mehr als das: Der wichtigste Teil, der sein Leben ausgemacht hatte, fehlte. Sie nicht mehr zu fühlen, zu spüren, körperlich nicht mehr mit ihr verbunden zu sein, das war mehr, als er ertragen konnte. Deshalb war er jetzt gekommen, um sie wiederzusehen, und er war wild entschlossen, sie nicht mehr gehen zu lassen, nie mehr.

Immer mehr Menschen kamen vor der Anlage zusammen, um herauszufinden, was es so Interessantes zu sehen gab. Das Nilpferd trottete zum Wasser, verhielt kurz vor dem Rand, dann glitt es hinein. Der Mann folgte ihm und ließ sich am Rand nieder. Jetzt lächelte er. Er lachte doch nicht etwa …?

Max dachte, beinahe amüsiert: Versuchst du dich etwa zu drücken, Dornröschen? Keine Chance. Wir werden gemeinsam auf meine Susi warten. Er begann zu lachen. Es war ein Lachen, das direkt aus seinen Tränen kam. Unaufhaltsam breitete es sich aus, nahm ihn in Besitz in langsamen Wellen, die sich hoch und höher schaukelten. Ihm wurde nicht bewusst, dass viele Menschen ihm zusahen und die ersten auch schon zu lachen begannen. Er war ganz bei sich und Dornröschen. Und vor allem bei Susi!

Wann wurde Frau Müller bewusst, dass hier etwas ganz schrecklich aus dem Ruder zu laufen begann? Als sie bereits wie ihre Schüler versuchte, sich gegen immer stärkere Lachschübe zu wehren? Vergeblich. Da war etwas, das mächtiger war als sie, dem sich niemand entziehen konnte. Das Geschehen, das sich vor ihren Augen abspielte, war seltsam unwirklich und überhaupt nicht komisch. Ihr war überhaupt nicht zum Lachen zumute. Vielleicht – vielleicht war es ja auch gar kein Lachen. Sondern ein Weinen …? Weinten sie denn alle?

Max fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder glücklich, geradezu euphorisch glücklich. Hoch und höher lachte er sich, und sein Blick wurde immer klarer. Susi!! Da, wo vorher noch der mächtige Kopf seines Nilpferds gewesen war, sah er jetzt seine Susi, die ihn anlächelte und zu sich winkte.

Frau Müller hatte ihre Arme um mehrere Kinder gelegt, die sich um sie drängten. Obwohl sie alle lachten, wirkten sie gleichzeitig auch seltsam verängstigt. Sie sahen, wie der lachende Mann da unten seine Arme weit ausbreitete, als wolle er die Welt umarmen. Sein Gesichtsausruck war geradezu selig, trotz des ständigen Lachens, das seinen ganzen Körper beben ließ. Das Nilpferd war am Rand wieder halb aufgetaucht und öffnete ganz weit sein gewaltiges Maul, es sah so aus, als wollte es mitlachen. Dann glitt der Mann an seiner Seite ins Wasser und umarmte den Kopf des Nilpferds. Erst lag er halb mit seinem Oberkörper auf dem Tier, bevor er langsam an seiner Seite etwas tiefer rutschte. Nur noch seine Schultern und sein strahlendes Gesicht waren zu sehen. Sein Mund war weit geöffnet – der sich plötzlich rot färbte. Auch aus der Nase kam Blut, ganz schnell und immer mehr …

Das allgemeine Lachen brach schlagartig ab. Totenstille. Dann breitete sich ein Stöhnen aus. Dann fingen einige Kinder an zu weinen …

Max Kopf sank nach vorn und halb zur Seite; sein Körper wurde noch immer von Dornröschen gegen den Rand des Beckens gepresst, sodass er nicht tiefer ins Wasser rutschen konnte.

Der Zoodirektor Dr. Abendroth drehte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Seine Frau, die neben ihm im Bett lag, überlegte, wie sie ihn ablenken könnte. Sollte sie vielleicht mit ihm schlafen? Nach kurzem Zögern verwarf sie den Gedanken jedoch als unpassend, der Situation nicht angemessen. Stattdessen flüsterte sie, den Kopf in seiner Armbeuge: „Du musst versuchen, das Schreckliche zu vergessen.“

Sie war schon längst eingeschlafen, als er noch immer darüber nachdachte, was er heute erlebt hatte. „Das Schreckliche vergessen?“ Es war überhaupt nicht schrecklich gewesen, das war es ja gerade, was ihn keinen Schlaf finden ließ. Ganz im Gegenteil. Sein Zoomitarbeiter Max, der ja wahrhaftig nicht gerade dem griechischen Schönheitsideal entsprochen hatte – im Tod, in der Vollendung des Todes hatte er so viel Würde ausgestrahlt, auch so viel unfassbare Schönheit.

Irgendwie hatte er so erlöst ausgesehen. Diesen Abglanz von Liebe in den erstarrten Zügen und gebrochenen Augen, er wusste, dass er diesen Anblick nie mehr vergessen würde. Diesen Ausdruck von Seligkeit, ja, des puren Glücks …

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