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Für alle, die meinen Roman „Die Zärtlichkeit des Geldes“ noch nicht kennen, gibt es ihn ab sofort in einer neuen Auflage unter dem Titel „Paradise to go: Unwiderstehliche Versuchung“, und zwar nicht nur bei Amazon Kindle, sondern auch für alle anderen Reader in allen anderen großen Shops wie Thalia, Apple, Hugendubel, Weltbild, Google Play oder auch Kobo etc. Der Aktionspreis von EUR 2,99 für das E-Book gilt nur für kurze Zeit.
von Udo Robin Gardner
Max erblickte das Licht der Welt an einem Freitag, dem Dreizehnten, und entsprechend verlief auch sein Einstieg ins Leben. Schon als man ihn nach der Entbindung seiner Mutter an die Brust legen wollte, stieß sie einen schrillen Schrei aus, rief „Jesus Maria“ und bekreuzigte sich. Energisch weigerte sie sich, ihn anzunehmen. Als er dann schließlich doch an ihrer Brust lag, weinte sie leise vor sich hin, den Kopf zur Seite gewandt, als ertrüge sie es nicht, ihren Sohn anzusehen. Auch sein Vater blickte ziemlich betreten aus der Wäsche. „Soll das mein Sohn sein?“, schien er sich grübelnd zu fragen. „Ist das denn die Möglichkeit?“
Es war nicht nur die Möglichkeit, es war sogar absolut gewiss, dass Max der Sohn dieser beiden ehrbaren Menschen war, die bereits jetzt, kurz nach seiner Geburt, begannen, sich von ihren hochfliegenden Plänen für Max‘ Zukunft (unser Sohn soll es mal besser haben) zu verabschieden.
Nicht, dass Max‘ Eltern schlechte Eltern gewesen wären. Nein, das waren sie nicht. Sie waren enttäuschte Eltern. Zu sehr hatten sie sich auf diesen neuen Erdenbürger gefreut, hatten sich so viel von ihm erhofft. Alles, was Ihnen im eigenen Leben nicht gelungen war – ihre frühen Träume und Sehnsüchte, allesamt vom Wind der Zeit verweht –, ihr Sohn sollte es verwirklichen. Er sollte Freude, Liebe und Inhalt in ihr glanzloses Leben bringen. Aber dieser Neugeborene, das war schon gleich zu sehen, war irgendwie verunstaltet, sah merkwürdig verwachsen aus, ganz anders als die anderen Babys, und würde es einmal sehr schwer im Leben haben. Vermutlich noch schwerer als sie selbst es gehabt hatten. Da half nur noch der Alkohol als stets probates soziales Schmiermittel, um mit dieser kolossalen Enttäuschung fertigzuwerden. Der Vater war erst nach 3 Tagen wieder einigermaßen ansprechbar.
Schon als Baby wirkte Max nicht nur schwerer, sondern vor allem viel klobiger als andere Gleichaltrige. Da war so gar nichts Feines oder Zartgliedriges an ihm. Irgendwie erinnerte er – war es sein Onkel Kurt, der das zum ersten Mal ausgesprochen hatte? – an ein Nilpferd. Diese kurzen Beine, auf denen der schwere Corpus saß, der ohne Hals in den massigen Kopf überging; dazu der breite wulstige Mund, die hervorquellenden schläfrigen Augen – was war da nur schiefgelaufen?
Aber Max war wenigstens ein friedliches (um nicht zu sagen: phlegmatisches) Kind, das nicht viel schrie und eigentlich immer nur schlafen wollte. Absolut pflegeleicht. Wenn er aber auf andere Kinder traf, zum Beispiel auf dem Spielplatz oder im Kindergarten, blühte er regelrecht auf und wollte mit ihnen spielen, stieß aber leider auf keine Gegenliebe. Die anderen Kinder wollten nichts mit ihm zu tun haben und stießen ihn weg, was ihn unsäglich traurig machte. Natürlich fiel ihm auf, wie nett alle Menschen zu den anderen Kindern waren, wie sich die Eltern freuten, ihre Kinder zu sehen und die Kindergärtnerinnen strahlten, wenn sie mit ihren kleinen Lieblingen die Welt erkundeten. Nur er war niemandes Liebling. Bei ihm strahlte niemand. Als gäbe es eine unsichtbare Mauer um ihn herum, gelang es ihm einfach nicht, auch wenn er sich noch so sehr bemühte, von den anderen anerkannt, geschweige denn geliebt zu werden.
Max verstand nicht, warum das so war, und zog sich immer mehr in sich selbst zurück.
Normalerweise, und das hat die Natur weise so eingerichtet, appelliert die Schutzbedürftigkeit kleiner Kinder an das Gute im Menschen und weckt den Beschützerinstinkt der Großen. Nicht so bei Max. Bei ihm versagte dieser Mechanismus irgendwie völlig. Seine Tragödie war, dass sein Aussehen in keiner Weise mit seinem Innenleben übereinstimmte. Sein Äußeres entsprach dem eines unbehauenen, groben Klotzes, und es bedurfte mehr als nur einer normalen Fantasie, um sich vorstellen zu können, dass im Inneren dieses hässlichen Klotzes geradezu ein Seelchen von einem Menschen wohnte. Ein Seelchen, das vor Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit und Harmonie immer mehr verging Ja, wenn sein Äußeres dem Inneren entsprochen hätte, kein Zweifel, alle Welt hätte sich um Max gerissen. Aber so …
So wurde Max immer trauriger, immer isolierter. Als nach dem Kindergarten die Schule kam, wurde es nicht etwa besser, sondern mündete vollends in die Katastrophe, denn sein plumpes Aussehen hatte sich noch weiter ausgeformt, wenn man das so sagen kann, und er wurde nun richtiggehend gemobbt, so brutal, wie eben nur Kinder sein können. Auch sie fanden, dass er wie ein Nilpferd aussah, Nilli riefen sie ihn deshalb. Und da war niemand, mit dem er hätte reden können. Nicht mit den Lehrern, die ihn aufgrund seines Aussehens schon von vornherein abgeschrieben hatten, und auch nicht mit den eigenen Eltern. Alles, was er von denen zu hören bekam, war „Du musst dich mehr anstrengen“ und „Von nichts kommt nichts!“ Seine Eltern hatten inzwischen all ihre aufgesparte Liebe auf das kleine Schwesterchen übertragen, die alles das hatte, was ihrem Bruder fehlte. Dieser süße Wonneproppen war eine Nachzüglerin, mit der niemand mehr, vor allem die Ärzte nicht, gerechnet hatte.
Eines Tages fiel Max ein wunderschönes Bilderbuch in die Hände. „Ferdinand, der Stier“. Damit erschloss sich ihm eine ganz neue Welt. Ferdinand, der Stier, der nicht in der Arena kämpfen wollte, um sich dort abschlachten zu lassen, sondern lieber unter einem Baum lag, in die grüne Natur schaute und den süßen Duft der Blumen roch. Das konnte Max nachvollziehen, denn er wollte auch nicht kämpfen. Wozu auch? Er war seinem ganzen Wesen nach nicht dafür geschaffen, den Sinn des Kämpfens zu verstehen, wo es immer mindestens einen Sieger und einen Verlierer geben musste.
Dieses ganze Leben aber, war es nicht organisiert wie ein einziger Kampf?
Armer Max. Beim Fußballspiel taten ihm die Verlierer leid, beim Boxen konnte er sich nicht mit dem Gewinner freuen, sondern litt mit dem Verlierer. Als wäre er der Bibel entsprungen, war er genau der Typ, der einem Angreifer nach dem ersten Schlag auf die Wange gleich auch noch seine andere bereitwillig hingehalten hätte.
Da seine Beziehungen zu den Menschen so wenige (eigentlich gar keine) Früchte trugen, begann er sich mehr und mehr den Tieren zuzuwenden, zunächst den Hunden und Katzen in seiner Umgebung. Hier war die Resonanz auf ihn eine ganz andere: Auf die Tiere übte er eine geradezu magische Anziehungskraft aus. Sie wollten mit ihm spielen, ihnen war er gut genug, ja, sie liebten ihn. Sie taten ihm so gut, dass sich seine Seele, in der es mit der Zeit immer dunkler geworden war, wieder aufhellte. Gefördert wurde diese Entwicklung auch durch eine ganz merkwürdige Entdeckung, die Max rein zufällig machte. Und zwar an dem Tag, als das Lachen Einzug in sein Leben hielt.
Es war vor dem Eingang zu einer großen Einkaufspassage. Ein kleiner Struppi war an einem Fahrradständer angeleint und winselte kläglich, immer wieder unterbrochen durch weinerliches Kläffen. Dieser kleine, zum Warten verdammte Hund vereinte das Elend und die Einsamkeit der ganzen Welt in sich. Als Max sich näherte, um in die Passage zu gehen, verstummte er plötzlich, stand ganz still und witterte in Max‘ Richtung. Mit einem Mal durchlief ein Zittern den kleinen Körper, das Stummelschwänzchen begann ekstatisch zu wackeln; dann strebte er Max entgegen. Er zog an seiner Leine mit solcher Macht, dass er sich zu strangulieren drohte. Die Augen quollen schon hervor, er hechelte stoßweise, nahm immer wieder Anlauf, um in Max‘ Richtung zu springen, nur um sich mit einem schrillen Jaulen am Boden wiederzufinden. Doch er gab nicht auf und warf sich erneut in die Leine.
Das Tierchen führte sich auf wie toll und die beiden erregten bereits die Aufmerksamkeit der Passanten sowie der Menschen, die vor dem Café neben dem Eingang saßen. Vereinzelt tönte Lachen auf. „Schaut mal den riesigen Kerl da!“ Es war wirklich ein rührender Anblick, wie sich dieser große ungeschlachte Mensch zu dem kleinen Hündchen hinunterbeugte, das vor Begeisterung schier außer Rand und Band geriet.
Ein junger Typ stieß seine Begleiterin an und grinste:“ Hast du mal den Film Der Glöckner von Notre-Dame gesehen? Der da sieht genauso aus wie dieser … dieser Quasimodo.“
Der riesige Mensch erwiderte die Freude des kleinen Hundes. Er strahlte ihn an und bekam dabei ein ganz rotes Gesicht. Und während er ihn streichelte und das Hündchen vor Erregung winselnd an ihm hochsprang und seine Hände leckte, begann er leise zu lachen. Ein Lachen, das ganz tief aus seinem Inneren kam, perlend wie die Quelle aus dem Berg.
Die Menschen, die die Szene bisher amüsiert beobachtet hatten, wurden mit einem Mal still. Irgendetwas übertrug sich. Was nun geschah, sollte allen Beteiligten für immer rätselhaft bleiben. Der große Mensch hörte nicht etwa auf zu lachen, sondern lachte immer weiter und auch lauter, es war, als ob sich die Schallwellen, die von ihm ausgingen, rhythmisch verteilten mit einer Sogwirkung, der sich kein Zwerchfell entziehen konnte. Nach einer Minute lachten alle Umstehenden, und es kamen immer mehr Menschen hinzu, die wissen wollten, was da los war und nach kurzer Zeit in das Lachen einstimmten. Die meisten wussten noch nicht einmal, weshalb sie so lachten, denn das jaulende Hündchen und der riesige Mensch, der am Boden kniete, waren nur von denen, die direkt daneben standen oder saßen, zu sehen. Zuletzt fegte ein Lachen über den Platz, das sich immer mehr zu einem wahren Lach-Orkan steigerte. Einige waren schon völlig aus der Puste und drohten zu kollabieren, aber da ebbte das Lachen glücklicherweise auch schon wieder ab.
Da war die Quelle dieser Lachorgie bereits in der Passage verschwunden, ein glückliches Hündchen und ratlose Menschen zurücklassend, denen irgendwie ganz eigenartig zumute war, als hätten sie einen Kater.
Max indes fühlte sich beschwingt wie eigentlich noch nie zuvor in seinem Leben, so, als hätte das Lachen ihn irgendwie energiemäßig aufgeladen. Er beschloss, das bei nächster Gelegenheit gleich wieder auszuprobieren …
Dieser Vorfall auf dem Platz markierte einen Wendepunkt in Max‘ Leben und seit da ging es mit ihm bergauf. Wann immer ihm trübe zumute war, musste er nur lachen, das war der reinste Stimmungsmacher für ihn, und niemand konnte sich seinem Lachen entziehen.
Mittlerweile hatte er auch beruflich Boden unter die Füße bekommen und den für ihn richtigen Job gefunden. Als Tierpfleger im Zoo war er genau dort, wo er immer hingewollt hatte. Er liebte die Tiere, für die er Sorge trug, wobei sein ganz besonderer Liebling die Nilpferddame Dornröschen war. Ihm war klar, dass nun auch die Zeit gekommen war, um endlich die nächste große Sache in seinem Leben anzugehen.
Er wusste nicht, wo, und er wusste nicht wie, aber er wusste, dass sie zu ihm kommen würde: die Liebe. Dass sie aber so zu ihm kam, wie sie dann kam, das hätte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können!
Denn sie kam zu ihm sprichwörtlich wie aus heiterem Himmel!
Max hatte sich bei einem Trödler einen Sessel gekauft, ziemlich billig und entsprechend sah er auch aus, und er trug ihn stolz wie Bolle vor sich her. Er befand sich auf dem Weg zurück zu seinem kleinen Einzimmerappartement in dem großen Block gleich neben dem Zoo. Während er sich seinem Wohnhaus noch annäherte, hörte er plötzlich einen Schrei von oben. Als er stehenblieb und sich zurücklehnte, um nach oben zu blicken, sah er gerade noch einen dunklen Schatten auf sich heruntersausen – und dann krachte es auch schon fürchterlich. WUMM!
Der dunkle Schatten von oben war genau auf die Sitzfläche des Sessels, den er so einladend vor sich hergetragen hatte, geknallt.
Beide gingen zu Boden, wobei es Max gelang, so zu fallen, dass er den Sturz des Schattens, der übrigens betonmäßig schwer war, mit seinem Körper abfedern konnte. Er tat sich ziemlich weh dabei, aber der Schmerz war ziemlich schnell vergessen, als er sah, was er da in seinen Armen hielt.
Das wunder-wunder-wunderhübscheste Geschöpf, das er jemals gesehen hatte.
Susi war noch völlig benommen, als sie endlich die Augen öffnete. War sie etwa schon im Himmel? Sie blickte in runde, maßlos erstaunte, sehr sanfte braun gesprenkelte Augen – in denen sie bis ans Ende der Welt versinken konnte.
Obwohl er noch nie geliebt hatte, war Max absoluter Experte in Liebesdingen dank der modernen Segnungen des Internets. Er wusste, wie der weibliche Körper in allen möglichen und unmöglichen Stellungen aussah und was man damit alles anstellen konnte.
Also verhielt er sich genauso, wie er das in unzähligen Pornofilmchen gelernt hatte, wo es ja für gewöhnlich immer schnell zur Sache ging. Er trug sein Himmelsgeschenk zusammen mit den Resten des Sessels so schnell wie möglich auf seinen starken Armen hinauf in seine Wohnung, setzte die Dame auf sein Bett und stand dann, nachdem er die Wohnungstür sorgfältig abgesperrt hatte, schwer atmend und ehrfürchtig staunend vor ihr.
Das war sie also, seine große Liebe! Ans Werk! Aber wie beginnen? Jetzt verließ ihn doch der Mut. Nachdem sie sich endlos lange angestarrt hatten, wendete sich Max etwas verschämt zur Seite und begann sich auszuziehen.
Es folgte nicht, was jetzt eigentlich hätte folgen müssen: energischer Protest nämlich. Warum wehrte sich Susi nicht? Ihr gehauchtes „Ich bin die Susi“ konnte nun wirklich nicht als Protest durchgehen.
Max besaß immerhin noch so viel Höflichkeit und stellte sich ebenfalls vor. „Und ich bin der Max!“, stöhnte er mit versagender Stimme. Er hatte nur noch die Unterhose an und Susi sah, dass seine Knie zitterten, seine Hände, ja, der ganze Mann zitterte, und die Zähne schlugen hörbar aufeinander. Eigentlich eher ein Bild des Jammers, dieses Mannsbild in der geblümten Unterhose, nicht der Bedrohung.
Susi hatte mittlerweile begriffen, dass sie nicht im Himmel, sondern ihr Selbstmordversuch gescheitert war. Wie sollte sie sich verhalten? Was dieser komische Mann von ihr wollte, war ihr jetzt nicht mehr so klar, da er nur dastand und vor sich hin bibberte. Nein, Angst hatte sie keine vor ihm. Als die Zeit sich zu einer Ewigkeit dehnte und nichts passierte, stand sie schließlich etwas unentschlossen auf.
„Du, ich geh‘ dann mal“, sagte sie. Nach ein paar Schritten blieb sie noch einmal stehen. „Und danke auch, dass du mich … aufgefangen hast … Also, tschüss dann.“
Er hatte sich noch immer nicht bewegt, sondern nur weiter gebibbert. Sie hatte schon fast die Tür erreicht, als sie ein weiteres Mal innehielt. Was war denn das für ein Geräusch? Das klang ja wie …? Sie wandte sich zu ihm um. Er lachte doch nicht etwa …?
Doch, tat er. Und das mit todernstem Gesicht. Max lachte glucksend in sich hinein. War er irre? Sie hatte noch nie jemanden so lachen hören. Sie wurde böse. Wie konnte er es wagen, sich über sie lustig zu machen! Sie war gewiss nicht stolz darauf, was sie getan hatte, aber …
Inzwischen hatte das Lachen Max‘ Gesicht erreicht, und es war faszinierend zu beobachten, wie es sich von dort über den ganzen Menschen ausbreitete und ihn auch rhythmisch erfasste. Bevor sie noch richtig begriff, was hier vor sich ging, fing sie selbst zu lachen an, obwohl sie dazu nicht den geringsten Anlass sah. Was war nur los mit ihr? Ihr wurde so komisch …?
Staunend beobachtete sie sich, wie sie dem jungen Mann die scheußliche Blümchenunterhose abstreifte, und eigentlich hätte ihr die gewaltige Erektion des wie befreit wippenden Penis‘ einen gehörigen Schrecken einjagen müssen, aber nichts dergleichen geschah. Immer lauter lachend ließ sie es zu, dass Max zaghaft ihre Brüste berührte, nun begann sie sogar, ihre Bluse aufzuknöpfen, um ihm entgegenzukommen und es ihm leichter zu machen.
Max hatte noch nie eine Frau intim berührt, und trotz des permanenten Lachens, das dem Ganzen eine verspielte Note gab, betastete und streichelte und bestaunte er das ihm Dargebotene voller Andacht. Als sie auch nackt war, brach sein Lachen abrupt ab. Sie verstummte ebenfalls. Und dann war da nur noch ihr beiderseitiges heftiges Atmen und Schnaufen zu hören, und Max fühlte etwas Gewaltiges in sich aufsteigen, das er kaum mehr imstande war, zu bändigen.
Auch Susi war noch nie von einem anderen Menschen intim berührt worden, und es fühlte sich so wunderbar an. Haut an Haut. Fleisch an Fleisch. Wange an Wange, dann Mund auf Mund. Die ganze Welt begann sich zu drehen, erst langsam, dann immer schneller, bis sich schließlich die Dimensionen von Zeit und Raum in einem Wirbelwind auflösten, der sie weit, weit fort trug, direkt ins Paradies hinein.
Diese beiden schwergewichtigen jungen Leute konnten, einmal angefangen, nicht mehr voneinander lassen. Ihre vernachlässigten, liebeshungrigen Körper hatten die Regie übernommen.
Ab da waren Max und Susi ein Paar, und wieder einmal war der Beweis erbracht, dass es für jedes Töpfchen das passende Deckelchen gibt.
Max und Susi, Susi und Max. So war es, und so war es gut. Und so sollte es auch bleiben, das war beiden von Anfang an klar. Ein ganzes Leben lang.
Wie sie das gesundheitlich überstehen sollten, darüber machten sie sich noch keine Gedanken. Sie waren zu einem Leib geworden, zu einem Wesen mit zwei Rücken. Selbst wenn Susi aus ihrem Leben erzählte, manchmal traurig, aber meistens vergnügt vor sich hinplappernd, steckten sie ineinander fest. Max hatte durch ihre Berührungen eine Dauererektion, und auch Susi war schon ganz wund, aber beide wollten ohne diesen süßen Schmerz nicht mehr leben. Selbst auf der Toilette oder auch beim Zähneputzen hielten sie sich im Arm oder zumindest Händchen …
Susi war in einer Babyklappe abgelegt worden und hatte ihre Eltern nie kennengelernt. Nachdem sie von den lieblosen Pflegeeltern mehrmals ausgerissen war, verbrachte sie die folgenden Jahre in Heimen, wo sich niemand um sie kümmerte. Nach einer abgebrochenen Lehre landete sie auf der Straße. Das Einzige, was sie bisher im Leben gelernt hatte, war, dass sie hässlich und fett war und dass sie allen nur zur Last fiel. Zuletzt hatte sie bei einer alten Frau als Putze gearbeitet, die sie bei der Polizei anzeigte, weil sie 5 Euro vermisste. Wie sich dann herausstellte, hatte sie das Geld nur verlegt, kam aber nicht auf die Idee, sich bei Susi zu entschuldigen. Susi war einmal in ihrem Leben mutig und sagte dem alten Drachen ihre ungeschminkte Meinung – und kündigte gleich von sich aus. Sie hatte so die Schnauze voll von dieser unverschämten Ausbeuterin, die sie in einem fort nur schikaniert hatte, und überhaupt von ihrem ganzen Leben, dass sie, als sie die Wohnung verließ, die Abkürzung durchs Fenster nahm …
Es war ihr Sprung ins Glück!
Max konnte es nicht fassen, dass sie sich als hässlich bezeichnete. Er fand jedes Detail an ihr wundervoll. Ihre runden Augen, ihre runden Wangen, das entzückende Grübchen im Kinn, die weiche Polsterung ihre Doppelkinns, ihre runden Schultern, die atemberaubenden Rundungen ihrer Brüste, dieses herrlich wogende warme, weiche Fleisch, das ihn umschmeichelte, ihm Wärme und Geborgenheit bot…
Susi zog bei Max ein, das heißt, sie blieb einfach da und holte irgendwann ihren Koffer mit ihren wenigen Habseligkeiten, der bei einem Bekannten untergestellt war, ab. So viel Seligkeit auf 17 qm. So viel Raum für ihre Liebe auf der 1 Meter breiten Matratze auf dem Boden.
Wenn Max zur Arbeit ging, begleitete Susi ihn manchmal. Auch sie war von Dornröschen ganz begeistert. Gleich beim ersten Mal hatten sie Freundschaft geschlossen. Susi schaute von draußen zu, als Max bei Dornröschen saubermachte, sie durfte nicht mit rein, weil Nilpferde als sehr gefährlich gelten. Dornröschen stand am Wasser und zögerte noch, hineinzugehen. Stattdessen glotzte sie Susi an. Susi musste plötzlich herzhaft gähnen, und was machte Dornröschen? Sie gähnte ebenfalls, und zeigte Susi, wie so etwas wirklich zu gehen hat mit ihrem wahrhaft riesigen Maul. Damit konnte Susi natürlich nicht konkurrieren und musste lachen. Als Dornröschen ihr Maul wieder zu hatte, blinzelte sie, das war doch wirklich kaum zu glauben, ja echt, sie blinzelte Susi für einen Augenblick zu, bevor sie sich vergnügt ins Wasser plumpsen ließ.
Ansonsten verbrachten die beiden die meiste Zeit zu Hause; sie gingen nur raus, wenn sie was zum Essen einkaufen mussten. Noch immer konnten sie körperlich nicht voneinander lassen, es war, als versuchten sie nachzuholen, was sie bisher in ihrem Leben versäumt hatten. Schon nach wenigen Wochen waren Susi und Max rein äußerlich kaum mehr wiederzuerkennen. Ihre Gesichter waren zwar bleich, sie hatten dunkle Schatten unter den Augen und sahen irgendwie hohlwangig aus, aber körperlich hatten sie sich mächtig in Form gebracht. Ein Beweis, dass es kein besseres Konditionstraining als die Liebe gibt.
Ein gutes halbes Jahr war inzwischen vergangen und Susi arbeitete nun auch seit kurzem im Zoo, zunächst als Hilfskraft, die mal hier, mal dort eingesetzt wurde, aber mit der Aussicht auf eine feste Anstellung. Sie kamen gerade aus dem Discounter raus, wo sie für das Abendessen eingekauft hatten, und spazierten Hand in Hand nach Hause. Plötzlich knallte es ein paarmal. Die Menschen blieben stehen, und auch Max drehte sich um in die Richtung, aus der das Knallen gekommen war. Er sah zwei junge Typen aus dem Eingang einer Bank laufen. An seiner Hand gab es einen Ruck; er umklammerte Susis Hand mit eisernem Griff, da sie ihm zu entgleiten drohte. Susi lag neben ihm am Boden, unter ihrem Kopf bildete sich eine Blutlache.
Im Kopf hatte er noch nicht überrissen, was passiert war, als sich seine Beine schon in Bewegung setzten. Mit geradezu übermenschlicher Kraft jagte er den Kerlen nach. Als er den einen fast erreicht hatte, schoss der im Laufen auf ihn und Max fühlte die Kugel an seinem Kopf vorbeipfeifen. Dann, mit einem gewaltigen Satz hatte er das Arschloch eingeholt und riss es mit sich zu Boden. Und dann schlug er wie von Sinnen auf das um Hilfe schreiende Bürschchen ein, weiß Gott, er hätte dieses elendige Stück Mensch, das seiner Susi ein Leid angetan hatte, totgeschlagen, wenn nicht die Polizei so rasch erschienen wäre und das Schlimmste verhinderte. Die Beamten hatten alle Mühe, den tobenden Mann, der Bärenkräfte entwickelte, von seinem Opfer zu entfernen.
Susi war von einem Querschläger getroffen worden und starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Max hielt ihre Hand so lange, bis man ihm sein Liebstes auf Erden wegnahm. Als im Krankenhaus die Flügeltür zuschlug, durch die man die Bahre, auf der Susi zugedeckt lag, geschoben hatte, blieb Max zurück, einsam und hilflos, am Boden zerstört.
Er ging nicht zu Susis Beerdigung. Sie kam in ein Armengrab. Zu der Susi, die nicht mehr bei ihm war, hatte er keine Beziehung. Ihre Sachen, die zurückgeblieben waren, spendeten ihm nur schwachen Trost. Er ließ sie, wie er sie vorgefunden hatte, veränderte nichts.
Er hatte keine Kraft mehr und verließ manchmal über viele Tage nicht die Wohnung. Auch der Job interessierte ihn nicht mehr. Eines Tages kam eine Ladung vom Gericht, dass er am Soundsovielten als Zeuge gehört werden sollte.
Doch am Tag dieses Gerichtstermins hatte er Wichtigeres vor. Er hatte einen Entschluss gefasst. Sorgfältig machte er sich morgens fertig, zog sich seinen besten und einzigen Anzug an, den Susi für ihn in einem Secondhandladen ausgesucht hatte, und kämmte sich die widerborstigen Haare. Dann, nach einem letzten langen Blick in den Spiegel, verließ er die winzige Wohnung, in der er mit Susi gelebt hatte …
Im Zoo fasste die kleine Janine nach der Hand ihrer Lehrerin und zog sie nach rechts. „Du, Frau Müller, was macht denn der Mann da unten. Schau mal.“ Mit ihrem rechten Arm deutete sie hinüber zur Freiluftanlage. Ein massiges Nilpferd war da zu sehen, das einen riesigen Mann in einem dunklen Anzug anglotzte, der ihm gegenüberstand. Die Klassenlehrerin rief ihre Schüler zusammen. „Kommt doch alle mal her, Kinder, hier gibt’s was zu sehen!“
Auch andere Besucher des Zoos näherten sich neugierig und verfolgten gespannt, was in dem Gehege vor sich ging.
Der Mann redete auf das Nilpferd ein. Man konnte nicht verstehen, was er sagte, aber er schien, seinem wilden Gestikulieren nach, ziemlich aufgeregt zu sein.
Max hatte Dornröschen ja so viel zu erzählen, er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte. Zu viele Gedanken gleichzeitig in seinem armen Kopf, die alle gleichzeitig raus wollten. Aber am wichtigsten war doch, dass er ohne Susi nicht leben konnte. Seit sie nicht mehr bei ihm war, war er nicht mehr vollständig, fühlte er sich halbiert, nein, noch viel mehr als das: Der wichtigste Teil, der sein Leben ausgemacht hatte, fehlte. Sie nicht mehr zu fühlen, zu spüren, körperlich nicht mehr mit ihr verbunden zu sein, das war mehr, als er ertragen konnte. Deshalb war er jetzt gekommen, um sie wiederzusehen, und er war wild entschlossen, sie nicht mehr gehen zu lassen, nie mehr.
Immer mehr Menschen kamen vor der Anlage zusammen, um herauszufinden, was es so Interessantes zu sehen gab. Das Nilpferd trottete zum Wasser, verhielt kurz vor dem Rand, dann glitt es hinein. Der Mann folgte ihm und ließ sich am Rand nieder. Jetzt lächelte er. Er lachte doch nicht etwa …?
Max dachte, beinahe amüsiert: Versuchst du dich etwa zu drücken, Dornröschen? Keine Chance. Wir werden gemeinsam auf meine Susi warten. Er begann zu lachen. Es war ein Lachen, das direkt aus seinen Tränen kam. Unaufhaltsam breitete es sich aus, nahm ihn in Besitz in langsamen Wellen, die sich hoch und höher schaukelten. Ihm wurde nicht bewusst, dass viele Menschen ihm zusahen und die ersten auch schon zu lachen begannen. Er war ganz bei sich und Dornröschen. Und vor allem bei Susi!
Wann wurde Frau Müller bewusst, dass hier etwas ganz schrecklich aus dem Ruder zu laufen begann? Als sie bereits wie ihre Schüler versuchte, sich gegen immer stärkere Lachschübe zu wehren? Vergeblich. Da war etwas, das mächtiger war als sie, dem sich niemand entziehen konnte. Das Geschehen, das sich vor ihren Augen abspielte, war seltsam unwirklich und überhaupt nicht komisch. Ihr war überhaupt nicht zum Lachen zumute. Vielleicht – vielleicht war es ja auch gar kein Lachen. Sondern ein Weinen …? Weinten sie denn alle?
Max fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder glücklich, geradezu euphorisch glücklich. Hoch und höher lachte er sich, und sein Blick wurde immer klarer. Susi!! Da, wo vorher noch der mächtige Kopf seines Nilpferds gewesen war, sah er jetzt seine Susi, die ihn anlächelte und zu sich winkte.
Frau Müller hatte ihre Arme um mehrere Kinder gelegt, die sich um sie drängten. Obwohl sie alle lachten, wirkten sie gleichzeitig auch seltsam verängstigt. Sie sahen, wie der lachende Mann da unten seine Arme weit ausbreitete, als wolle er die Welt umarmen. Sein Gesichtsausruck war geradezu selig, trotz des ständigen Lachens, das seinen ganzen Körper beben ließ. Das Nilpferd war am Rand wieder halb aufgetaucht und öffnete ganz weit sein gewaltiges Maul, es sah so aus, als wollte es mitlachen. Dann glitt der Mann an seiner Seite ins Wasser und umarmte den Kopf des Nilpferds. Erst lag er halb mit seinem Oberkörper auf dem Tier, bevor er langsam an seiner Seite etwas tiefer rutschte. Nur noch seine Schultern und sein strahlendes Gesicht waren zu sehen. Sein Mund war weit geöffnet – der sich plötzlich rot färbte. Auch aus der Nase kam Blut, ganz schnell und immer mehr …
Das allgemeine Lachen brach schlagartig ab. Totenstille. Dann breitete sich ein Stöhnen aus. Dann fingen einige Kinder an zu weinen …
Max Kopf sank nach vorn und halb zur Seite; sein Körper wurde noch immer von Dornröschen gegen den Rand des Beckens gepresst, sodass er nicht tiefer ins Wasser rutschen konnte.
Der Zoodirektor Dr. Abendroth drehte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Seine Frau, die neben ihm im Bett lag, überlegte, wie sie ihn ablenken könnte. Sollte sie vielleicht mit ihm schlafen? Nach kurzem Zögern verwarf sie den Gedanken jedoch als unpassend, der Situation nicht angemessen. Stattdessen flüsterte sie, den Kopf in seiner Armbeuge: „Du musst versuchen, das Schreckliche zu vergessen.“
Sie war schon längst eingeschlafen, als er noch immer darüber nachdachte, was er heute erlebt hatte. „Das Schreckliche vergessen?“ Es war überhaupt nicht schrecklich gewesen, das war es ja gerade, was ihn keinen Schlaf finden ließ. Ganz im Gegenteil. Sein Zoomitarbeiter Max, der ja wahrhaftig nicht gerade dem griechischen Schönheitsideal entsprochen hatte – im Tod, in der Vollendung des Todes hatte er so viel Würde ausgestrahlt, auch so viel unfassbare Schönheit.
Irgendwie hatte er so erlöst ausgesehen. Diesen Abglanz von Liebe in den erstarrten Zügen und gebrochenen Augen, er wusste, dass er diesen Anblick nie mehr vergessen würde. Diesen Ausdruck von Seligkeit, ja, des puren Glücks …
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Herr Feyerabend
Ich hab’s mit den Namen. Wenn da einer Herr „Pubs“ heißt oder Frau „Rülps“ oder „Schweinebacke“ oder „Grunzer“ – da denke ich mir schon meinen Teil und schaue mir den dazugehörenden Menschen genauer an. So erging es mir auch mit Herrn Feyerabend.
Wir lernten uns in einem grauen Amtsgebäude kennen, ich eher unfreiwillig. Nach ewigem Warten leuchtete endlich, endlich meine Nummer auf. Meine Laune war im Keller. Ich hasse es, zu einer Nummer degradiert zu sein. Ist das wirklich nötig? Warum ruft man die Bürger nicht namentlich auf? Als ich dann am Türschild noch den Namen „Feyerabend“ las, dachte ich mir, das kann ja heiter werden.
Wurde es nicht. Er machte seinem Namen alle Ehre und sah wirklich so aus, als könne ihn nur noch der Feierabend von seiner miserablen Existenz erlösen. Es fehlten nur noch die Ärmelschoner, dann wäre er der Inkarnation des Beamtenklischees schon verdammt nahegekommen. Seine Bewegungen waren langsam und geradezu ängstlich überbetont und sein Arbeitstempo derart langsam, dass die „Zeitlupe“ dagegen das reinste High-Speed-Rennen war.
Seit dieser denkwürdigen Begegnung waren alle Beamten für mich nur noch Herr oder Frau Feyerabend, egal, ob mit „i“ oder „y“. Ich habe einen Sketch geschrieben, in dem eine Beamtin vorkommt. Ihr Name? Feyerabend! In dem Buch, das ich gerade schreibe, kommt ein ziemlich sturer und mediokrer Beamter vor. Natürlich heißt er … Genau. Nur habe ich diesmal aus dem „y“ ein „i“ gemacht.
Das war bis jetzt so. Doch jetzt hat sich alles geändert! Herr Feyerabend, ich möchte Abbitte leisten. Ich werde mich nie mehr über Sie lustig machen. Das verspreche ich.
Was diese Kehrtwende verursacht hat? Eine kleine Zeitungsnotiz! Ein Mann namens Hans Feyerabend wurde am 25. November im Berliner Rathaus als 569. Deutscher von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Yashem in Jerusalem zum „Gerechten unter den Völkern“ ernannt. Das ist die höchste Auszeichnung, die der Staat Israel an Nicht-Juden zu vergeben hat – an Menschen, die ihr eigenes Leben riskiert haben, um Juden zu helfen.
Post mortem in diesem Fall. Denn die Geschichte liegt 70 Jahre zurück. 1945 trieb die SS Tausende jüdische Gefangene auf Todesmärsche. 3000 von ursprünglich 13000 erreichten am 26. Januar Palmnicken bei Königsberg. Die Straßen und Wege dorthin waren gesäumt mit Toten. Es handelte sich vor allem um jüdische Frauen aus Polen und Ungarn. In Palmnicken wollte der Befehlshaber Fritz Weber sie in die Bernsteinmine treiben und lebendig einmauern lassen.
Doch der dortige Kommandant des Volkssturms, Hans Feyerabend, weigerte sich, dem Befehl nachzukommen. Überliefert sind seine Worte: „So lange ich lebe, werden die Juden zu essen bekommen, keiner wird sterben“. Und er ließ die halb verhungerten Menschen versorgen.
Doch er lebte nicht mehr lange. Am 30 Januar wurde er erschossen aufgefunden, den Gewehrlauf im Mund. Die offizielle Todesursache: Selbstmord. So ganz sicher ist es nicht, ob da nicht auch nachgeholfen wurde. Andererseits ist es aber auch gut nachvollziehbar, dass er derart verzweifelt darüber war, den Frauen nicht helfen zu können, dass er für sich keinen anderen Ausweg sah.
Wie hätte ich gehandelt? Wie hättet Ihr Euch verhalten?
Ich denke an den Priester, der mit den ihm anvertrauten Menschen in die Gaskammer ging. Volker Schlöndorff hat einen Film darüber gedreht, ich glaube, mit John Malkovich. Und ich erinnere an den deutschen Soldaten in Griechenland, der zum Exekutionskommando gehörte und plötzlich seine Waffe niederlegte, um sich in die Reihe zu den Delinquenten zu stellen.
Die SS und ein Großteil der Bevölkerung von Palmnicken wollten die Menschen loswerden. In der folgenden Nacht wurden sie in das eiskalte Wasser der Ostsee getrieben und zusammengeschossen. 3000 Menschen! Kann man sich auch nur annähernd vorstellen, was sich da abspielte? Hier streikt meine Phantasie. Aber vielleicht auch deshalb, weil ich mir das gar nicht vorstellen will. 200 von diesen armen Menschen überlebten das Massaker und nur 15 insgesamt von ihnen den Krieg.
Herr Feyerabend, ich lüfte meinen imaginären Hut vor Ihnen.
Und die Moral von der Geschicht? Vertrau dem Klang der Namen nicht! Selbst wenn einer „Arschloch“ heißt, bedeutet das noch lange nicht, dass er tatsächlich eines ist. Was im Umkehrschluss natürlich nur bedeuten kann, dass so mancher Hochwohlgeborene oder Herr Großgeist durchaus eines sein kann. Nein, die Namen können nichts dafür, was für Menschen sich hinter ihnen verbergen. Auch der Name Fritz Weber nicht, hinter dem sich solch ein bestialischer Mörder verbarg.
Mit Menschen wie Hans Feyerabend wird die Welt besser. Menschen wie er lassen uns hoffen.
Paradise to go: Unwiderstehliche Versuchung
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Manchmal mag ich schon gar keine Nachrichten mehr sehen, ich weiß sowieso schon, was kommt: nur Katastrophen! Die Welt wankt erschöpft von Krise zu Krise, und das Rad der Schreckensmeldungen scheint sich immer schneller zu drehen. Wie kann ich mich als kleiner Statist des Weltgeschehens gegen diese Bilderflut des Grauens wehren? Emotional auf die Reihe kriegen kann ich das alles ohnehin schon längst nicht mehr. Bevor mir noch schwindlig wird, bleibt die Glotze deshalb immer öfter aus.
Aber der Rückzug ins Private macht auch nicht unbedingt fröhlicher. Denn was die Menschen schon im Großen nicht hinbekommen, in der Politik, funktioniert im Kleinen in der Regel auch nicht besser – in den Beziehungen von Mensch zu Mensch, von Familie zu Familie, von Freunden zu Freunden, von Fremden zu Fremden.
Unter jedem Dach gibt es ein Ach! Mit diesem Satz kommentierte meine Schwester einmal auf ihre ganz eigene nüchterne Art eine nicht ganz jugendfreie Posse, die sich in einer schönen Villa in Heidelbergs bester Gegend abgespielt hatte. Feine Leute, bei denen es zuging wie bei Hempels … Seitdem begleitet mich dieser Satz mit dem Ach durchs Leben. Und ob’s mir nun passt oder nicht, er hat sich eigentlich immer als richtig erwiesen. War die Oberfläche auch noch so glanzvoll poliert und eindrucksvoll, der Blick dahinter hielt dem ersten Eindruck eigentlich nie stand. Gegen Krankheit kann man nicht viel machen (außer vorbeugend möglichst gesund zu leben), und materielle Not ist schlimm. Aber was sich die Menschen, davon mal abgesehen, selbstverschuldet alles antun, denen es doch sonst viel besser gehen könnte, das ist schon bemerkenswert. Ich muss hier eigentlich gar keine Beispiele nennen, ich glaube, die kennt jeder auch aus eigener Anschauung. Die Stichworte hierzu heißen Gier, Eifersucht, Neid, Missgunst, Eitelkeit, Machtspielchen, Egoismus bis zum Abwinken, Egozentrik … Bleibt als letzte Hoffnung nur noch die Liebe. Ach, was wäre das Leben ohne Liebe. Seufz!! Doch Vorsicht: Gerade die Liebe ist ein ganz besonderer Tummelplatz des Wahnsinns!
Manchmal bin ich das Chaos richtig leid und sehne mich nach einfachen, klaren, ehrlichen und überschaubaren Verhältnissen. Und ich denke mir: Soll das denn ewig so weitergehen, lernen die Menschen denn nie dazu? Bisher hat der alte Mann mit dem Rauschebart da oben im Himmel die Dinge ganz schön treiben lassen (mal vorausgesetzt, er ist kein Zyniker). Wäre es nicht endlich einmal an der Zeit, für Ordnung zu sorgen und durchzugreifen? Kann er denn nicht endlich mal ein Einsehen haben mit uns armen Menschlein, die die Dinge selbst nicht in den Griff bekommen, das sieht er ja selbst, und dem Guten, dem Reinen und Schönen eine Chance geben, so ganz ohne Hintergedanken? Wer sonst könnte das, wenn nicht er?
Für uns Geschichtenerzähler wäre das zwar gar nicht so gut. Denn wenn alle Menschen glücklich wären, gäbe es kaum noch was zu schreiben. Nur noch diesen einen Satz vielleicht: Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage … Aber wenn diese ferne Utopie sich tatsächlich verwirklichen ließe, dann, ja dann würde ich es nur zu gern bei diesem einen Satz belassen.
Bis dahin aber geht es weiter drunter und drüber. So auch in meiner kleinen Geschichte, die in Wien spielt. Sie endet mit einem großen Fragezeichen. Welche Antwort würde ich bevorzugen, was hielte ich für richtig? Ich weiß es nicht.
Vielleicht habt Ihr ja eine Idee …
SOLLTE SIE ES WISSEN?
Irgendwann hatte sie in der tiefsten und schwärzesten Verzweiflung in der Ferne einen dünnen Lichtstrahl wahrgenommen, der sich langsam näherte, um wieder Hoffnung und Wärme in ihr Leben zu bringen. Damals, nachdem es passiert war, hatte sie sich die Seele aus dem Leib geschrien, hatte halb wahnsinnig vor Leid mit den Fäusten auf die Erde getrommelt. So lange hatte sie geschrien, bis nichts mehr kam als ein heiseres Krächzen, das ihr die Kehle verbrannte, um dann in einem kläglichen Wimmern zu ersterben. Und ihr ganzer Körper war nur noch ein einziger, in sich gekrümmter Klumpen Schmerz.
Was Maria erlebt hatte, war mehr, als ein Mensch ertragen kann!
Dabei hatte dieser Tag, der ihr Leben so komplett aus den Angeln heben sollte, ganz normal begonnen. Der ganz normale tägliche Wahnsinn halt, den eine junge Mutter stemmen musste, die neben ihrer kleinen Tochter auch noch ein männliches Riesenbaby an den Hacken hatte und daneben noch versuchte, obwohl sie mit den beiden weiß Gott schon mehr als genug ausgelastet war, sich eine berufliche Perspektive aufzubauen.
Wie immer die morgendliche Hetze, um Emilia in den Kindergarten zu bringen, danach die Klausur in der Uni, die voll in die Hose gegangen wäre, wenn sie es nicht doch noch irgendwie geschafft hätte, ihre Wut auf Wolfgang zu verdrängen, der zuhause seinen Rausch ausschlief. Schauerlich! Wie sie an den nur hatte geraten können…? Ihr Hirn, auf dessen Output sie sich doch sonst immer so viel einbildete, musste in der entscheidenden Kennenlernphase auf Sendepause umgeschaltet haben, anders war das, was folgte, nicht zu entschuldigen. Und dieser Scheißkerl schien sich nur deshalb in ihrem Leben eingenistet zu haben, um ihr eine unerträgliche Last zu sein und sie ganz tierisch zu nerven.
Aber dieser Scheißkerl war Emilias Vater!
Wenn es nach Maria gegangen wäre, hätte sie ihn schon längst in den Orbit geschossen; sollte er sich doch in der Erdumlaufbahn vergnügen, Hauptsache, möglichst weit weg von ihr. Aber leider, leider ging es nicht nur nach ihr. Denn da war ihre Kleine, die ihren Papi geradezu abgöttisch liebte. Nicht übertrieben: Sie liebte diesen Bastard mit einer Zärtlichkeit und Innigkeit, so wie ein kleines Mädchen mit aller Inbrunst überhaupt nur lieben kann. Für sie war ihr Papi das schönste, klügste, erfolgreichste Wesen auf diesem Planeten – der personifizierte Superlativ!
Dieser Versager, dieser Hurenbock, dieser elendige Lügner und Betrüger, dieser … ach, Maria fehlten einfach die Worte, um diesem menschlichen Abfalleimer gerecht zu werden. Fakt war jedenfalls, der Kerl war ein Totalausfall und ließ sie völlig im Stich – in allem.
Nachdem sie Emilia vom Kindergarten abgeholt hatte, nahmen sie die Stadtbahn hinaus zur Kennedybrücke, um von dort mit der Straßenbahn weiter nach Mauer zu fahren. Sie würden die nächsten Tage bei ihren Eltern wohnen. Ganz anders als gewöhnlich hatte sie sich diesmal gegen Emilias empörten Protest rigoros durchgesetzt. Sie brauchte einfach mal eine Auszeit von diesem Typen. Und damit basta!
Und genau das hatte sie geradewegs in die Katastrophe geführt. Das würde sie ihm niemals vergeben. Und sich selbst auch nicht!
„Massenschlägerei auf der Kennedybrücke“ lautete der Aufmacher im Nacht-Kurier. “Zahlreiche Fußballfans waren in die Schlägerei verwickelt. Sie befanden sich auf dem Weg nach Perchtoldsdorf zum Heurigen, um ihre Mannschaft zu feiern. Es gab zahlreiche, zum Teil schwer Verletzte …“
Ihre kleine zarte Emilia, ihr Goldengelchen gehörte dazu. Was sich da auf der Brücke genau abgespielt hatte, bekam sie später nur noch bruchstückhaft zusammen, entsetzliche Bilder, die aus dem Dunkel in ihrem Kopf kaleidoskopisch aufblitzten: die Menschenmenge auf dem Platz zwischen dem Bahnhofsgebäude und den Haltestellen der Straßenbahnen, hin und her wogend, das Brüllen und Kämpfen wütender Menschen, einige Besoffene, die ihre Flaschen schwangen, Frauen, die vor Angst schrien… sie versuchte sich mit ihrem Kind am Rand der Menge vorbeizudrücken, nur weg von hier … als diese auf einmal herüberschwappte und sie sich plötzlich mittendrin befanden … Panik … Sie wurden geschoben und gestoßen, hin und her, ein Riese von Mann, an dem mehrere andere Männer hingen, die auf ihn einschlugen, begann zu schwanken, befand sich bedrohlich über Emilia. Sie versuchte noch verzweifelt, sich nach vorn zu werfen, um ihr Kind an sich zu reißen und zu schützen, wurde aber im selben Augenblick von jemandem nach hinten gezogen und umgeworfen. Und der große Kerl mitsamt der Meute verlor endgültig sein Gleichgewicht und brach, wild mit den Armen rudernd, über Emilia zusammen. Wo war ihr Kind? Hysterisch rief sie nach Emilia …
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der sie zappelte und wild um sich trat, merkte sie, wie sie befreit wurde, wie die Menschen über ihr und um sie herum weggeschoben oder hochgehoben wurden und dann, als sie sich verwirrt umschaute, sah sie ihr Kind. Es lag da, bewegungslos, ihr kleiner Engel rührte sich nicht, sah in seinem roten Mäntelchen aus wie schlafend. Aber was war das? Da war Blut auf dem Mund, hellroter Schaum …. Neben ihr kniete ein Mann am Boden, der in ein Handy sprach. Und dann wusste sie nur noch, wie alles in ihr zu schreien begann, so laut, dass es in ihren eigenen Ohren widerhallte …
Polizei war da, ein Krankenwagen, Sanitäter kümmerten sich um ihr Kind, da war wohl auch ein Arzt, der Maria eine Beruhigungsspritze verpasste. Und immer noch der Mann, der nun hilflos zusah, wie man sich um das kleine blonde Mädchen bemühte. Maria erinnerte sich schemenhaft, dass er es gewesen war, der sie unter all diesen Menschen hervorgezogen hatte und der auch Emilia unter dem Menschenberg ausgegraben hatte. Mit Bärenkräften, als wären sie Puppen, hatte er die Menschen einfach zur Seite geschaufelt.
So hielt Mark Conradi Einzug in ihrem Leben. Wann immer sie in der Klinik bei ihrer Kleinen war – er wartete draußen vor der Tür des Krankenzimmers. Egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Sie sagte ihm, dass er verschwinden solle. Auch ihre Eltern wollte sie nicht sehen, obwohl sie es ihnen nicht gänzlich verbieten konnte, ihr Enkelkind zu besuchen, und schon gar nicht diesen Scheiß-Wolfgang, ohne den diese Tragödie niemals stattgefunden hätte. Nein, sie wollte und konnte nicht mit der Außenwelt kommunizieren, mit niemandem, zu erschüttert war sie bis in ihr tiefstes Inneres. Aber Mark ließ sich nicht abwimmeln, war einfach nur da und wartete. Als der liebe Gott ihren kleinen Engel zu sich geholt hatte und sie sich endlich losreißen konnte, nachdem sie den kleinen Körper noch lange in ihren Armen gewiegt und Emilias liebes Gesichtchen gestreichelt und geküsst hatte, war es Mark, der sie auffing, als sie auf dem Krankenhausflur zusammenbrach. Man wollte sie über Nacht dabehalten, erst als Mark versprach, sich um sie zu kümmern, war man bereit, sie nach Hause zu entlassen. Doch bevor sie ging, wollte sie ihr Kind noch einmal sehen. Diesmal durfte Mark mit ins Zimmer, das er auf Zehenspitzen betrat, als hätte er Angst, das Kind, das wie ein schlafendes Engelchen auf dem Bett aufgebahrt lag, aufzuwecken. Maria spürte, wie sich ihr Körper schon wieder würgend zusammenzog und sie dabei war, ihre mühsam bewahrte Fassung zu verlieren, als sie durch ein dunkles, qualvolles Stöhnen abgelenkt wurde. Irritiert blickte sie zu Mark hinüber, von dem das Stöhnen kam, und was sie sah, ließ sie für einen Augenblick den eigenen Schmerz vergessen. Er zitterte am ganzen Körper, als hätte er Schüttelfrost, und seine Zähne schlugen aufeinander, dabei war sein Gesicht schneeweiß und Schweiß perlte auf seiner Stirn, auch über der Oberlippe. Und aus seinen Augen quollen Tränen, die in Strömen über seine Wangen hinabliefen. Dieser Anblick seines fassungslosen Schmerzes berührte sie tief, wenngleich er für sie auch etwas merkwürdig Beunruhigendes hatte. Aber das gestand sie sich erst sehr viel später ein, und zwar, als sich Emilias Todestag zum ersten Mal jährte. Doch zunächst einmal empfand sie in diesem Moment hauptsächlich ein Gefühl großer emotionaler Nähe zu Mark, welches sie selbst überraschte und sie wie ein wärmendes Licht empfand, das in die Dunkelheit ihrer Seele leuchtete.
Es dauerte Monate, bis sie wieder so etwas wie Rudimente ihres einstigen Lebenswillens wiederfand. Ohne Mark hätte sie diese Zeit nicht überlebt, da war sie sich ganz sicher. Sie weinte viel und war oft zu schwach, tagsüber das Bett zu verlassen, dafür fand sie nachts keinen Schlaf und wünschte sich verzweifelt zu sterben. Mit sicherem Instinkt ließ er sie allein, wenn sie es brauchte, und war zur Stelle, noch bevor sie denken konnte: wo er nur bleibt? Und wenn er nicht mehr kommt -? Er kaufte Lebensmittel ein, er kochte für sie, ein paarmal putzte er ihr sogar die Zähne und legte ihr frische Sachen zum Anziehen raus. Und er fuhr sie zum Döblinger Friedhof, wann immer sie zu ihrem Kind wollte. In der Anfangszeit trug er sie sogar die 3 Stockwerke zu ihrer Wohnung hinauf und auch von dort wieder runter, wenn sie selbst zu schwach war, das aus eigener Kraft zu schaffen.
Nach wie vor wollte sie sonst niemanden sehen und ließ niemanden an sich heran. Sie wollte nicht getröstet und schon gar nicht abgelenkt werden von ihrer Trauer, die sie wie ein schützender Kokon umhüllte und die Welt außen vor hielt. Mit der war sie sowieso fertig. Restlos! Obwohl sie wusste, dass es ungerecht war, hegte sie einen tiefen Groll gegen ihre Eltern, allein schon aus dem Grund, weil sie sie in diese schreckliche Welt gesetzt hatten, wo sie so viel zu erleiden hatte. Ihre Eltern waren durch ihr ablehnendes und gereiztes Verhalten verletzt und tief verstört. Sie konnten nicht verstehen, dass ein fremder junger Mann für ihre Tochter das leisten durfte, was sie als ihre ureigenste Aufgabe betrachteten. Eine Familie muss schließlich in der Not zusammenhalten! Aber Maria empfand Mark nicht als fremd, obwohl sie ihn doch überhaupt nicht kannte. Seine stille Anwesenheit gab ihr vielmehr Halt in ihrem Schmerz, irgendeinen letzten Halt, der sie vor dem totalen Absturz bewahrte. Vielleicht war er ja auch so etwas wie ein Engel, gesandt vom lieben Gott, um ihr in ihrer Not beizustehen. Aber warum hatte Gott ihr dann ihren kleinen Goldengel überhaupt erst weggenommen? Das ergab doch keinerlei Sinn. In hilflosem Zorn führte sie fast schon routinemäßig ihr Taschentuch an die Augen, obwohl diese längst leergeweint waren. Lieber Gott, was hast du dir dabei gedacht, kannst du mir das mal sagen?
Dass es mit ihr wieder aufwärts ging, erkannte sie daran, dass sich etwas in ihrer Wahrnehmung verändert hatte. Wann fiel ihr zum ersten Mal auf, dass ihr Engel ein Mann war, und nicht nur das, sondern auch noch ein verdammt attraktiver obendrein? Und auf diese Erkenntnis folgte dann gleich der nächste Schock, als sie nach so langer Zeit ihr Spiegelbild wieder bewusster betrachtete. Sie wäre fast umgefallen vor Entsetzen. Grundgütiger, wie sah sie denn aus?
Auch Mark fiel auf, dass sich etwas in ihrem Verhalten verändert hatte. Ihr Blick bekam manchmal einen versonnenen Glanz, wenn sie ihn ansah, doch es dauerte noch einige Zeit, bis sie sich traute, ihn direkt darauf anzusprechen, was ihr auf der Seele lag. Sie hatte Angst vor seiner Antwort, als sie ihn fragte: „Warum hast du eigentlich so viel Zeit. Musst du denn nicht arbeiten?“
Mark konnte sie beruhigen, denn nichts wäre für sie schlimmer gewesen, als schon wieder an so einen Tunichtgut wie ihren Ex geraten zu sein. Von nun an ging es ihr mit jedem Tag besser, und nachdem sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, fühlte sie sich fast schon wie neu geboren. Heftig schnaufend und schweißnass lagen sie noch halb aufeinander, spürten den abebbenden Wogen der Lust nach, denen ein kreatürliches Behagen und wohliges Erschlaffen folgten. So intensiv hatte sie ihren Orgasmus überhaupt noch nie erlebt. Mark hatte sie buchstäblich ins Leben zurückgebumst.
Habe ich schon erwähnt, dass Mark Schauspieler war? Am Theater in der Josefstadt. Ein gutes Haus mit eher mickrigem Gagenniveau, aber dafür musste Mark auch nicht allzu viel arbeiten. Zurzeit befand er sich sowieso zwischen 2 Stücken und hatte keine Proben, nur ab und zu mal eine Vorstellung. So hatte er wenigstens genug Zeit für Maria. Zunächst war es sein schlechtes Gewissen gewesen und ja, auch Mitleid, das ihn veranlasst hatte, sich um sie zu kümmern. Doch bald schon musste er sich eingestehen, dass es wesentlich mehr war, was ihn zu ihr hinzog. Obwohl er kaum definieren konnte, was mit ihm geschah, wenn er mit Maria zusammen war, merkte er doch, dass sie ihm guttat, dass er irgendwie sich selbst zum ersten Mal so akzeptieren konnte, wie er war – und das war schon mehr als erstaunlich angesichts der traurigen Grundsituation sowie der Probleme, in denen er steckte. Aber Mark hatte sich, so viel lässt sich ohne Übertreibung sagen, durch das Erlebte verändert. Stark verändert! Und das merkte nicht nur er, das wurde vor allem in seinem beruflichen Umfeld sehr aufmerksam registriert. Man kannte ihn als einen Schauspieler, der sich stets leidenschaftlich in seine Rollen stürzte, um sich für größere Aufgaben zu empfehlen, und sich in heftigen Ausbrüchen und exaltierten Posen gefiel. Bisher war er aber mit seiner Darstellungskunst auf wenig Gegenliebe bei den Regisseuren gestoßen: zu oberflächlich, zu selbstverliebt, lautete ihr Resümee. Dass er immer noch im Ensemble bleiben durfte, verdankte er vor allem seinem guten Aussehen und seiner witzigen und frechen Art, mit der er vor allem bei der Damenwelt offene Türen einrannte – was er, unter uns gesagt, auch reichlich tat. Sein Ruf, ein Mann zu sein, der nichts anbrennen ließ, war solide erworben. Maria durfte nie davon erfahren!
Als er zum ersten Mal nach dem Unfall auf der Kennedybrücke wieder spielen musste, es war nur eine mittelgroße Rolle, aber er stand fast die ganze Zeit auf der Bühne, geschah etwas sehr Seltsames. Mark war mit seinen Gedanken mehr bei Maria und Goldengelchen als beim Stück – wie sollte er sich da auf diesen lächerlichen Text konzentrieren? Mein Gott, wie belanglos schien ihm der angesichts der furchtbaren Tragödie, die er erlebt hatte. So lieferte er ihn ziemlich teilnahmslos ab, ja, er weigerte sich geradezu, groß zu agieren oder Intensität vorzutäuschen, wie es sonst seine Art war, und sehnte das Ende der Vorstellung herbei. In der Pause merkte er zwar, dass ihn alle irgendwie so merkwürdig ansahen, aber das war ihm gleichgültig. Und als das Stück dann zu Ende war, ging er davon aus, dass dies auch das Ende seiner Schauspielkarriere sei. Jetzt galt es nur noch, den Schlussapplaus hinter sich zu bringen, wenn die Leute pfeifen würden, würde ihn das auch nicht stören. Hauptsache, er konnte rasch zurück zu Maria.
Aber was geschah?
Zuerst verneigte sich das ganze Ensemble. Frenetischer Applaus. Dann mussten sich die Schauspieler einzeln verbeugen, in schnellem Durchlauf, den Anfang machten die kleineren Rollen. Mark kam als Dritter dran. Für die kleinen Rollen gab es meist nur höflichen Beifall, alles wartete auf die Hauptdarsteller am Schluss. Diesmal aber begann das Publikum bei Mark wie wild zu applaudieren, auch Bravo-Rufe waren zu hören. Mark wäre fast gestolpert, als er wieder von der Bühne rannte, so verblüfft war er. Die beiden Hauptdarsteller zuletzt erhielten lange nicht so viel Applaus wie Mark. Als dann wieder alle zusammen auf die Bühne kamen, begannen erst einige, dann immer mehr Zuschauer zu trampeln und diesmal sah Mark, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Er war eigentlich mehr erschrocken als erfreut, konnte sich aber der Magie des Augenblicks ebenso wenig entziehen wie seine Kollegen, die ebenfalls die Welt nicht mehr verstanden.
Das war die Geburtsstunde des Schauspielers Mark Conradi. Mark hatte jetzt endlich den Erfolg, den er sich immer so sehr gewünscht hatte. Und das brachte ganz eigene Probleme mit sich. Plötzlich wollten nämlich alle mit ihm arbeiten und ihn für ihre zukünftigen Projekte buchen. Sogar Leute vom Fernsehen tauchten auf und zeigten Interesse. Und er? Geriet in einen mächtigen Konflikt. Er brauchte seine Zeit doch für Maria. Glücklicherweise wurde im Theater und beim Fernsehen oft lange im Voraus geplant, sodass ihm für die nächsten Monate noch genügend freie Zeit blieb. Andererseits brauchte er dringend mehr Geld, denn Marias finanzielle Situation war nicht nur chaotisch, sondern geradezu desaströs.
Als sich Goldengelchens Todestag zum ersten Mal jährte, erlebte Maria eine Situation, die ihr schlagartig Marks Verhalten an Emilias Bett im Krankenhaus ins Gedächtnis zurückrief. Sie wohnte inzwischen bei ihm in Hietzing und hatte sich ausgerechnet diesen traurigen Tag ausgesucht, um sich für das nächste Semester zu immatrikulieren. Als Zeichen für sich und Mark, dass sie bereit war, wieder nach vorne zu schauen und ihrer gemeinsamen Zukunft eine Chance zu geben. Sie war schon fast in der Stadt, als ihr einfiel, dass sie ein wichtiges Dokument vergessen hatte. Als sie 20 Minuten später die Wohnung betrat, hörte sie aus dem Schlafzimmer lautes Stöhnen und fand Mark tränenüberströmt im Bett liegend vor, zusammengerollt wie ein kleines Kind, neben ihm auf dem Kopfkissen ihr Lieblingsfoto von ihrem Goldengelchen. Er war so aufgelöst in seinem Schmerz, dass er sie gar nicht kommen hörte. Bestürzt eilte sie zu ihm und rüttelte ihn an der Schulter.
„Mark, Liebling, was hast du? Was ist mit Dir?“ rief sie aufs Äußerste besorgt. Mark richtete sich halb auf, streckte flehend eine Hand nach ihr aus. Ein wildes Schluchzen schüttelte ihn.
Als sie sich neben ihn aufs Bett setzte, lief ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter und plötzlich bekam sie kaum noch Luft. Sie fühlte deutlich, dass da etwas war, von dem sie nichts wusste. Was war das, was ihn mit ihrem Kind verband? Sein Verhalten war doch nicht normal!? Sie konnte es sich nicht erklären, war völlig ratlos. Und auf einmal empfand sie Angst, nur noch Angst.
Mark hielt sie jetzt mit seinen Armen umschlungen, das Gesicht in ihrem Schoß. Er war ganz kurz davor, es ihr zu sagen. Es würde eine ungeheure Erleichterung für ihn sein, sein Geheimnis endlich teilen zu können: mit ihr. Um sich dann nie wieder diese Frage stellen zu müssen, die ihn permanent und bis zum Wahnsinn gequält hatte: Sollte sie es wissen …?
Aber was wäre dann? Sie würde ihn verlassen, da war er sich ganz sicher. Und ohne sie würde er wieder zurückfallen in das bodenlose Loch, aus dem er gekommen war. In seiner Verzweiflung hatte er sich schon oft gewünscht, das Geschehene ungeschehen machen zu können. Aber in seinem tiefsten Inneren wusste er, dass das, selbst wenn man das gekonnt hätte, auch keine Lösung seines Problems gewesen wäre. Denn dann hätte er Maria ja überhaupt nie kennengelernt!
Er sah sich schon wieder haltlos durch sein Leben taumeln wie in der Zeit vor Maria. Langeweile, Frust, Perspektivlosigkeit – ja, so hatte sie ausgesehen, die Vor-Maria-Zeit. Und dazu noch größenwahnsinnig und dauergeil – ein junger Schauspieler eben, der nicht ausgelastet war. Das konnte doch gar nicht gut gehen, oder?
Mit harmlosen Spielchen hatte alles angefangen Ihn interessierte vor allem, wie man Menschen verunsichern und manipulieren konnte. Vielleicht würde ihn das auch künstlerisch weiterbringen, redete er sich ein. Gemeinsam mit seinem Spezi, der auch Schauspieler war an einem Kellertheater, waren es zunächst Blickkontakt-Spielchen gewesen, und sie freuten sich diebisch, wenn Mädchen erröteten, Männer schwul reagierten oder gar aggressiv wurden; oder aber sie standen nur vor dem Stephansdom herum und starrten so lange in die Luft, bis immer mehr Menschen ebenfalls in die Luft starrten und schließlich auf dem Graben alle Hans-guck-in-die-Luft spielten. Manchmal führten sie auch irgendwelchen pantomimischen Blödsinn auf, je verrückter, desto lieber. Obwohl sie als Schauspieler noch ziemlich unbekannt waren, hatten sie doch Angst, von Theatergängern vielleicht erkannt zu werden, und um kein Risiko einzugehen, verkleideten sie sich deshalb und schminkten sich manchmal, wobei auch falsche Bärte, Brillen und Perücken zum Einsatz kamen.
Bis eines Tages die verhängnisvolle Idee geboren wurde, die ihr Meisterstück werden sollte. Sie wollten Menschen, die sich nicht kannten und die einander nichts Böses getan hatten, so manipulieren, dass sie aufeinander losgingen. Ihr erster Versuch in einer Kneipe ging voll daneben. Da sie sich in dem engen Raum nicht rechtzeitig verdünnisieren konnten, bezogen sie selbst eine gehörige Tracht Prügel. Also ein neuer Versuch, der diesmal unter freiem Himmel stattfinden sollte. Da Mark in Hietzing wohnte, kam er beinahe täglich an der Kennedy-Brücke vorbei und wusste also, wann dort am meisten los war.
Sie hatten alles genauestens geplant, ihre kleine Inszenierung vorher sogar auch noch geprobt, sodass sie wussten, was sie zu tun hatten. Zuerst pöbelten sie herum, beschimpften sich und schlugen aufeinander ein. Als einige Männer versuchten, die Streithähne zu trennen, wurden sie ebenfalls beschimpft und angegriffen, sodass sie sich wehren und zurückschlagen mussten. Immer mehr Menschen wurden beschimpft und in die Rauferei hineingezogen, dennoch sah es nach einigen Minuten so aus, als würde die Schlägerei aus sich selbst heraus nicht lebensfähig sein. Erst als eine Horde Fußballfans, einige augenscheinlich schon recht angeheitert und mächtig unter Strom, sich begeistert in das Geschehen stürzte, ging die Post so richtig ab. Wie wenn Benzin in ein glimmendes Feuer gegossen würde. Als die Schlägerei schließlich über die ganze Brücke wogte, zogen sich Mark und sein Freund auf die gegenüberliegende Seite der Hadikgasse zurück. In einem Hauseingang entledigten sie sich der Utensilien ihrer Maskerade, die sein Freund in einer Plastiktüte verschwinden ließ, dann erfreuten sie sich an dem, was sie angerichtet hatten.
Polizeisirenen waren zu hören. Zeit, den Rückzug anzutreten. Ihr Unternehmen war ein voller Erfolg.
„Komm, lass uns verschwinden“, rief ihm sein Freund zu, während er sich umdrehte, um davonzulaufen.
Mark war auch schon auf dem Sprung. Ein letztes Mal warf er einen Blick zur Brücke hinüber, auf ihr gemeinsames Werk. Dann begann er ebenfalls zu laufen. Aber er lief nicht seinem Freund hinterher, sondern auf die Brücke zurück. Er hatte da für einen kurzen Augenblick ein kleines blondes Mädchen erspäht, in einem roten Mäntelchen an der Hand einer jungen Frau, bevor es unter einem Berg von Menschen begraben wurde. Jetzt beherrschte ihn nur noch ein Gedanke: Er musste helfen. Um Gottes willen …!
Sollte sie es wissen?
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WORK IN PROGRESS. 18.03.2015 v. U.R.Gardner
Gedanken zum Titel: DIE ZÄRTLICHKEIT DES GELDES. 18.12.2014 v. U.R.Gardner
DEM HOCHSTAPLER FELLIX KRULL SEI DANK. 22.09.2014 v. U.R.Gardner
LEONARD COHEN. 23.09.2014 v. U.R.Gardner
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Hiermit wird das Blog eröffnet (17.05.2014).
Als ich mich zum ersten Mal an einen Roman setzte, wusste ich noch viel zu wenig und hatte noch nicht viel erlebt. Als ich mehr wusste und viel erlebt hatte, fehlte mir die Zeit zum Schreiben. Das Leben war spannend und ging vor. Doch dann nahm ich mir eines Tages einfach die Zeit …
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